für die soziale Praxis
Im Althochdeutschen verstand man unter "Sinnan" soviel wie eine Reise unternehmen oder eine Fährte suchen, aber auch streben, ein Ziel geistig verfolgen. Wer sich auf eine Reise begibt, sucht eine Fährte. Wer sich auf eine Sinnreise begibt, sucht einen sinnvollen Weg. Aus diesem Verständnis lässt sich der Begriff Sinn, so wie er in der Logotherapie gemeint ist, ableiten. In einer Lebenssituation den in ihr verborgenen Sinn erspüren und verfolgen, die sinnvolle und optimale Antwort finden. Optimal ist, was sinnvoll ist, was das Beste in einer Situation ist. Das Optimale ist aber nicht wahllos, sondern richtet sich an Werten aus und an dem Bestreben, das Gute zu verwirklichen. Für den Menschen ist die Sinnfrage wichtig, weil davon sein gelingendes Leben, seine psychische Gesundheit und sein menschliches Erfülltsein abhängen.
Werte stehen für etwas, das der Mensch gutheißt, etwas, das ihm wichtig ist und das er pflegen möchte. Werte können einen sehr subjektiven Charakter haben. Mir kann etwas wichtig sein, das
für alle anderen belanglos ist. Auf dieser Ebene geht es um persönliche und individuelle Werte. Sie sind ggf. wählbar und austauschbar. Der Philosoph Max Scheler, dem Frankl in seinen
Grundintentionen folgt, beschreibt in seiner Wertphilosophie, dass Werte auch eine objektive Geltung haben können und uns anrufen, sie zu verwirklichen. Aus einer bestimmten Lebenssituation
lassen sich Werte herauslesen oder erspüren. Man kann bei der Frage der Objektivität (Gültigkeit) der Werte in philosophische Tiefengewässer geraten. Aber der einfachen Alltagserfahrung
erschließt sich schon überzeugend, dass das Leben im Grunde auf Liebe und Verwirklichung des Guten angelegt ist und damit auf Werteverwirklichung.
Es ist irgendwie klar, dass ich einem älteren Menschen, der nicht gut auf seinen Beinen stehen kann, im Bus meinen Platz anbiete. Es ist irgendwie klar, dass mir die Schwachen in der Gesellschaft
nicht gleichgültig sind bzw. sein sollen. Es ist irgendwie klar, dass ich einem verletzten Menschen Hilfe leiste. In der Logotherapie lerne ich, eine Situation auf seine Wertinhalte zu
überprüfen. Sinnvoll ist dann, aus den verschiedenen Wertmöglichkeiten, die eine Situation anbietet, die auszuwählen und zu verwirklichen, die eine Priorität in der besondern Situation
haben. So stehen Sinn und Werte in einer engen dynamischen Beziehung.
Der Wille zum Sinn ist das ursprüngliche Streben des Menschen schlechthin. Er entspringt aus seiner Wesensmitte, aus seinem personalen Kern. Ist der Wille zum Sinn frustriert, kann er nicht zur Geltung kommen, treten der Wille zur Macht und der Wille zur Lust in Erscheinung und entwickeln eine eigene Dynamik, die nicht primär am Sinn orientiert ist.
Frankl teilte Werte in Kategorien ein. Die Kategorie der schöpferischen Werte bezeichnet das gestaltende Tun, den schöpferischen Umgang mit Dingen und Menschen. Darin finden Menschen Sinn und Erfüllung. Die Kategorie der Erlebniswerte beschreibt Werte, die ich im Erleben aufnehme und dadurch innere Bereicherung erfahre, z.B. ein Sonnenuntergang, eine mitmenschliche Begegnung, ein Musikgenuss. In der dritten Kategorie, den Einstellungswerten, geht es darum, zu Dingen, die ich nicht verändern kann, eine Einstellung zu gewinnen, eine Einstellung, die sinnloses Rebellieren auflöst und eine Haltung der Akzeptanz ermöglicht. Das ist eine menschliche Leistung und der Sinn, der sich angesichts von unabänderbaren Umständen verwirklichen lässt.
"Zu den Existentialien des Menschseins gehören: die Geistigkeit, die Freiheit und die Verantwortlichkeit des Menschen." (Frankl)
Den Menschen an seine Geistigkeit zu erinnern, ist ein Grundanliegen der Logotherapie. Frankl bezeichnet mit der geistigen Dimension das Menschliche im Menschen. Gemeint ist damit eine personale Instanz, aus der heraus wir entscheiden, Stellung nehmen und bewerten. Das Geistige ist eine Dynamik, die sich auf Werte hin ausrichtet und gestaltend wirkt. In der Entdeckung der eigenen Geistigkeit entsteht ein neues Selbstverständnis und ich entwickle mich von einer reagierenden zu einer agierenden Person. Ein neues Erleben von "Ich kann" stellt sich ein. Sich als geistige Person in diesem Sinne zu verstehen, ist für die Lebens-gestaltung unbedingt wichtig. Die Geistigkeit des Menschen ist das an Sinn und Wert orientierende Gestaltgebende.
Freiheit ist kein einfacher Begriff. In der Hirnforschung gibt es die Ansicht, dass der Mensch unfrei, d.h. nur scheinbar frei ist. Aber es gibt auch die gegenteiligen Ansichten und Forschungsergebnisse. Es ist wieder die Alltagserfahrung, die uns zu der Einsicht bringt, dass Freiheit eine Realität ist. Frankl, der drei Jahre in vier verschiedenen Konzentrationslagern verbrachte, schreibt, dass "ein Rest von geistiger Freiheit, von freier Einstellung des Ich zur Umwelt auch noch in dieser scheinbar absoluten Zwangslage, äußeren wie inneren, fortbesteht." In der Logotherapie wird diese prinzipielle Freiheitsmöglichkeit thematisiert, um ein Freiheits-bewusstsein zu prägen. Dabei geht es nicht um eine idealistische oder wirklichkeitsfremde Freiheitsvorstellung im Sinne von "alles geht, wenn man nur will", sondern um die Feststellung, dass der Mensch prinzipiell als geistige Person freiheitsfähig ist und um die Entdeckung von persönlichen individuellen Freiheitsmöglichkeiten inmitten all der tatsächlichen Begrenzungen und Bedingtheiten, die das Leben ausmachen.
Es ist kein angenehmes Bild, sich einen Menschen vorzustellen, der frei ist, aber sich für nichts verantwortlich fühlt. Die Logotherapie macht dem Menschen die "Verantwortlichkeit als tragenden Grund seiner Existenz bewußt" (Frankl). Hierin ist sie durchaus wertend: Der Mensch ist verantwortlich dafür, sein Leben sinnvoll zu gestalten. Damit ist aber nicht verbunden, dass man vorschreibt, wie jemand sein Leben verantwortlich gestaltet. Das muss er selbst entscheiden. Das Bewusstsein von Verantwortlichkeit ist im Grunde eine starke Motivationshilfe für den Lebensalltag. Zu Wissen, für etwas verantwortlich zu sein, zu wissen, dass das eigene Talent gebraucht wird, ist ein gutes Gefühl und stärkt das Selbstbewusstsein. Man stelle sich nur den umgekehrten Gedanken vor: Ich bin für nichts verantwortlich und ich werde für nichts gebraucht. Was wollte man wohl lieber wählen?
In der Dankbarkeit kommt die Wertschätzung dem Leben gegenüber zum Ausdruck. Sie ist eine realistische Haltung und Einstellung zum Leben, die nichts als selbstverständlich voraussetzt, aber immer wieder beglückt ist über etwas Vorteilhaftes. Dankbarkeit führt zu mehr Zufriedenheit und ist eine gute Basis für das sinnvolle Engagement im Leben. Dankbarkeit weckt das Gefühl, über sich hinausgehen zu wollen, andere Menschen irgendwie teilhaben zu lassen. Die Anerkenntnis, dass man im Leben auch etwas bekommen hat, macht zufrieden. Man ist nicht zu kurz gekommen, auch wenn andere mehr haben. Der Dankbare ist der ständig Beschenkte. Wieso sollte man sich dieses wunderbare Gefühl auch entgehen lassen? Nur, man muss eben auch dankbar sein wollen bzw. es aus Einsicht heraus können.
Der Humor ist eine geistige Eigenschaft. Kein Tier kann über sich selbst lachen. Der Mensch kann es sehr wohl. Darin nimmt er einen gesunden Abstand zu sich selbst und den Dingen ein. Frankl war
für seinen Humor bekannt und setzte ihn auch für therapeutische Zwecke ein. Für ihn war der Humor ein Mittel, eine gewisse Distanz zu den Problemen zu schaffen. So ist der Humor tatsächlich ein
Schlüsselelement in der Logotherapie. Der humorvolle Dialog mit sich selbst fördert die Fähigkeit, Abstand zu sich selbst zu bekommen. Frankl sagte einmal, dass er wegen einer Angelegenheit
so böse auf sich war, das er drei Tage lang kein einziges Wort mit sich selbst gesprochen habe!
Erich Kästner hat es auch gut formuliert:
Der Humor rückt den Augenblick an die richtige Stelle.
Er lehrt uns die wahre Größenordnung und die gültige Perspektive.
Er macht die Erde zu einem kleinen Stern,
die Weltgeschichte zu einem Atemzug und uns selber bescheiden.
Das ist viel. Bevor man das Erzübel der Eitelkeit nicht fortgelacht hat,
kann man nicht beginnen, das zu werden, was man ist: ein Mensch.
Als Viktor Frankl vom Mangel an Lebensinn sprach, sagte er: "Zu diesem Mangel an Lebenssinn tritt aber noch etwas anderes hinzu: das Fehlen von Vorbildern, die uns die Hingabe an eine Aufgabe eben auch vorleben würden." Die Kraft zum sinnvollen Handeln kann man nicht immer aus sich selbst generieren oder aus dem Denken gewinnen. Wir brauchen Menschen, die uns sinnvolles Handeln vorleben. Wir brauchen die ganzheitliche Erfahrung in der Begegnung mit den Vorbildern. Und wir brauchen die "Bilder", die mehr als tausend Worte sagen können. Aufgrund seiner eigenen Lebensbiographie, u.a. durch seine KZ-Erfahrungen, wurde Frankl selbst für viele Menschen zu einem beeindruckendem Vorbild. Jeder kann Sinn erfüllen, indem er in irgendeiner Sache selbst zum Vorbild für andere wird. Am Vorbild nähren sich die Geister.
Bücher können echte Lebenshilfe sein. Sie können unseren Wissens- und Verstehenshorizont erweitern und zu einer gedanklichen und emotionalen Wende führen. Die Kraft der Worte und Sprachbilder kann einen starken persönlichen und motivierenden Eindruck auf uns machen. In der Logotherapie hat die Bibliotherapie, das Lesen von Büchern mit sinnerhellenden und lebensfördernden Inhalten, einen hohen Stellenwert. Frankls Buch über seine Erfahrungen in Konzentrationslagern "...trotzdem Ja zum Leben sagen" wurde zu einem bibliotherapeutischen Klassiker der Weltliteratur. Laut Library of Congress (Washington) ist es "one of the ten most influential books in America". Der Philosoph Karl Jaspers meinte, dass das Buch "zu den wenigen großen Büchern der Menschheit" gehört.
Das Selbstwertgefühl als psychische Befindlichkeit ist eine wichtige Grundlage für gelingendes Leben. In der Logotherapie ist aber das Pondon das Lebenswertgefühl (Elisabeth Lukas). Indem ich den
Blick auf die Sinn- und Wertinhalte des Lebens richte, wird auch das Selbstwertgefühl verbessert. Im Wissen, das ich für etwas gut und wichtig bin, verändert sich auch die Selbstwahrnehmung
positiv. Die Stärkung des Selbstwertgefühls ist dann eher ein Nebeneffekt eines sinnvollen Tuns. Und es besteht weniger die Gefahr, dass ich zu sehr grüblerisch und kritisch um das eigene
Selbstwertgefühl kreise. Schließlich hindert mich nichts daran, auch mit einem geringer ausgeprägten Selbstwertgefühl Sinnvolles zu verwirklichen.
Goethe sagte einmal: „Die ganze Welt ist voll armer Teufel, denen mehr oder weniger angst ist.“ Angst gehört eben zum Leben dazu. Sie ist ein allgemein menschliches Phänomen. Sie ist auch wichtig. Sie warnt uns vor Gefahren, macht uns vorsichtig und bedächtig, da, wo es notwendig ist. Oft ist sie es auch, die uns zu einer Selbstveränderung und Neuorientierung im Leben anspornt. In diesem Sinne sollten wir ein wertschätzendes Grundverhältnis zur Angst entwickeln Wir brauchen sie durchaus. In der Logotherapie ist der Umgang mit Angst ein Thema. Die Methode der Paradoxen Intention (humorvoller Dialog) ist eine erprobte Angst-regulationsmethode. Durch das Verstehen von Angstmechanismen und die Veränderung der persönlichen Einstellung zur Angst kann ihr ein großes Bedrohungspotential genommen werden. Sinnorientierung an sich ist auch ein wirksames Regulativ für Ängste.
Da, wo der Mensch eigentlich Mensch ist, in seiner geistigen und ganz persönlichen Dimension, will er gesehen und wertgeschätzt werden. Es ist ein ursprüngliches Anliegen der Logotherapie, dass bei aller notwendigen analytischen Betrachtung der Persönlichkeit der ganzheitliche und persönliche Blick nie verloren geht. Hier hat Frankls Lehre viel mit der Dialogphilosophie Martin Bubers zu tun: "Wer Du spricht hat kein Etwas zum Gegenstand". Menschen öffnen sich, wenn sie sich gemeint und wertgeschätzt fühlen. Sie öffnen sich leichter für die Frage, nach dem Sinn ihres Lebens und gegenüber den Forderungen des Lebens.
In ihrem Ursprung ist die Logotherapie eine Psychotherapie. Sie war aber von Anfang an auch so etwas wie Volksbildung, Lebenskunde und Lebenshilfe, mit dem Anliegen, die gesunden und heilenden Kräfte im Menschen zu entdecken und Menschen zu einer gestaltenden sinnorientierten Haltung zu ermutigen..
Alle Fotos und Texte (C) Manfred Hillmann